Reiss dich zusammen, Charlie Brown! (2024)

Charlie Brown und seine Freunde sind Stars wie Mickey Mouse, sie wurden ebenso oft kopiert, imitiert und kommentiert. Inzwischen überschatteten die Vermarktung einerseits und der Überbau an Auslegungen andererseits fast das lakonische Genie des Originals.

Reiss dich zusammen, Charlie Brown! (1)

Die «Peanuts», sagte ihr Erfinder, Charles M.Schulz, handelten eigentlich von «nichts». Sie seien ein «einfacher, alter Comicstrip». Ob er das ernst gemeint hat oder nicht: Klar ist, dass die Welt das vollkommen anders sah. Sie liebte die Kinder-Gang mit Beagle Snoopy und Vogel Woodstock und nahm die philosophischen, psychologischen und soziologischen Untertöne der Cartoons durchaus wahr. Aber heute verdecken die Hommagen und Referenzen fast die Originale.

Aus der Taufe gehoben wurden die Figuren 1947 zunächst unter dem Namen «Li’l Folks», 1950 hat sie der Verlag gegen Schulz' Willen in «Peanuts» umgetauft. Als Schulz im Jahr 2000 starb, liefen die Comics in mehr als 2500 Zeitungen in 75 Ländern, und bis heute kennt jeder die «Peanuts», wenigstens aus den Augenwinkeln, auch dank ihrer internationalen Vermarktung seit über fünfzig Jahren. Aber die Comicstrips werden bis heute auch von Lesern und Fans nach eigenen Ideen fortgeschrieben und von Experten in alle Richtungen hin gedeutet.

Kindermonster

Der italienische Schriftsteller und Philosoph Umberto Eco gehörte 1963 zu den Ersten, die ihr poetisches Potenzial erkannten: «Diese Kinder berühren uns, weil sie in gewisser Weise Monster sind: Sie sind monströse, infantile Reduktionen aller Neurosen eines modernen Bürgers des Industriezeitalters.»

Eco bot grosse Geschütze der Kulturgeschichte auf, um seine These zu untermauern – Freud, Adler und Beckett. Und er blieb nicht der Letzte, der etwas befrachtete, das eigentlich leicht sein wollte. Auch wenn er recht hatte und einleuchtend die Wiederholungsmechanismen beschrieb, die Charlie Brown und seine Freunde antreiben. Charlie Brown wird schon unwohl, wenn er keine Sorgen hat. Da hilft es auch nichts, wenn Lucy van Pelt, seine sad*stische Nemesis, dem melancholischen Versager seine Neurosen in ihrer Psychiatriebude für fünf Cents um die Ohren haut: «Snap out of it» – reiss dich zusammen!

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Da waren die «Peanuts» auch schon mittendrin in der damals entstehenden Psychiatriekultur, über die sich Schulz mit Lucys «psychiatric booth» auf subtile Weise lustig machte. Die Seelenforscher wiederum entdeckten «Peanuts»-Szenen zu eigenen Demonstrationszwecken. Unter anderem bat der Psychoanalytiker Donald Winnicott 1955 Schulz um Erlaubnis, Linus und seine Decke als Anschauungsmaterial für das Erklären von «Übergangsobjekten» zu verwenden, die dem Kind bei den ersten Prozessen der Ablösung von den Eltern helfen. Denn Schulz besass nicht nur die Gabe, sich in komplexe seelische Vorgänge einzufühlen, er konnte sie auch einem grossen Publikum zugänglich machen.

Die «Peanuts» sagten etwas zum Leben, zur Liebe und auch etwas über den Zustand der Welt. Charlie Brown ist der prominenteste ewige Verlierer seiner Truppe, der das Prinzip Hoffnung entgegen jeder Erfahrung verkörpert: Immer wieder hält ihm Lucy den Ball hin, immer wieder nimmt Charlie Brown Anlauf, immer wieder zieht sie den Ball weg, sobald er nah dran ist.

Im Grunde aber sind die «Peanuts» alle Wiederholungstäter und Unglückssüchtige: Lucy gibt ihre Liebe zu Schroeder nie auf, der seinerseits nur sein Spielzeugklavier und Beethoven liebt. (Lucy: «Schroeder, do you think love is the answer to everything?» Schroeder: «Boy, I hope not!») Snoopy, der dichtende Beagle, kassiert ewig Absagen für seine Romanmanuskripte ein, versendet sie aber trotzdem weiter. Und Linus schleppt seine Schmusedecke fast ein halbes Jahrhundert lang mit sich herum, bis sein Zeichner ihn davon befreit.

Nur eine Figur war weder mit Ängsten noch mit Obsessionen ausgestattet: Nach dem Mord an Martin Luther King erfand Schulz im Juli 1968 den ersten afroamerikanischen «Peanuts»-Charakter, Franklin. Weniger ausgeglichen, dafür aber der Coolste von allen ist Snoopy. Er betrachtet das Leben vom Dach seiner Hundehütte aus und lehnt es ab, an die Leine genommen zu werden. Stattdessen beginnt er lieber einen Roman mit den Worten: «It was a dark and stormy night.» Der Satz war geklaut, vom englischen Autor Edward Bulwer-Lytton, und mit dem zweiten tat Snoopy sich schon schwer, aber egal. Oft lässt er seine Phantasie spielen, kämpft im Kopf gegen den «Roten Baron», das Flieger-As des Ersten Weltkriegs. Wohl deshalb wurde Snoopy in den sechziger Jahren zum Maskottchen der Weltraumbehörde Nasa.

«Peanuts»-Ausstellung in London

mlö. · Das Somerset House in London widmet den «Peanuts» eine grosse Ausstellung: «Good Grief, Charlie Brown! Celebrating Snoopy and the Enduring Power of Peanuts». Sie schreitet die Biografie des «Peanuts»-Schöpfers Charles M. Schulz ab, ebenso wie seine künstlerische Entwicklung und seine Zeichentechnik. Grossen Raum nehmen die Wechselwirkungen zwischen den«Peanuts»und bildender Kunst, Psychiatrie sowie Zeitgeschichte ein. Bis 3. März.

Charles M.Schulz liebte Hunde. Doch taten sie ihm auch leid, sagte er in einer Fernseh-Talkshow mit Charlie Rose: Immer bei Fuss neben Herrchen oder Frauchen zu trotten, von anderen herumkommandiert zu werden – was sei das für ein Leben. Snoopy lebte die Freiheitsphantasien der gesamten Hundewelt aus, jedenfalls die Phantasien, die Schulz ihnen unterstellte. Der rebellische Beagle machte auch eine der signifikantesten Entwicklungen durch, in einem Comic, der sonst von leichten Verschiebungen im Ritual lebte: Nach rund zehn Jahren seiner Existenz stellte er sich auf die Hinterbeine und lief herum wie ein Mensch, ungefähr weitere zehn Jahre später teilte er den Lesern seine Gedanken in Sprechblasen mit.

Reiss dich zusammen, Charlie Brown! (3)

Die Dreidimensionalität der Figuren, die in ihrer wiedererkennbaren Welt leben, einem fest umrissenen Mikrokosmos, der Erwachsene fast vollständig ausschliesst, erreichte auch die Kunst: so etwa Lauren LoPrete, die den «Peanuts» Songzeilen des Sängers Morrissey in die Sprechblasen schrieb, oder Mel Brimfield, die in ihrer Arbeit «Mel Brimfield is nuts» destabilisierende Aussagen in ein Bild des überdimensional vergrösserten Kopfes von Lucy van Pelt montierte. Sie alle, wie auch die Psychiater, die Dichter und die Denker, kehren die dunklen Seiten der «Peanuts» heraus und füllen sie meist mit mehr Worten und Bedeutung, als ihr Schöpfer Schulz ihnen zugedachte.

Kunst der Reduktion

In den vier Bildern der klassischen «Peanuts»-Comicstrips landeten die Pointen meistens ganz sanft, dank wenigen Strichen und wenigen Worten. Charles M.Schulz beherrschte die Kunst der Reduktion, sein Humor war einsilbig und lakonisch. Diese Lockerheit aber ging den Künstlern, die sich von den «Peanuts» inspirieren liessen, oft ab; das Gleiche gilt für die mit spärlichem Witz gesegneten Exegeten.

Kein Wunder, sehnt man sich inzwischen wieder nach den Originalen zurück. Sie erinnern an ein Amerika, in dem Typen wie Charlie Brown, Snoopy und die anderen «Li'l Folks» mit ihrer Grosszügigkeit, ihren Schwächen und ihrem Optimismus gross werden konnten.

Nick Cave: «Ihr könnt mich alles fragen!» Seit dem Tod seines Sohnes sucht der australische Singer-Songwriter Nick Cave die Nähe zu seinen Fans. Während seiner Konzerte und auch im Internet.

Marion Löhndorf

Die Lust auf Bilder: Wenn Männerphantasien die Comics inspirieren Das 46.Comicfestival von Angoulême zeigte, wie die Comic-Kultur einst von «dirty old men» geprägt war. Doch in der Gegenwart sorgen längst auch Autorinnen und Zeichnerinnen für wichtige Impulse.

Christian Gasser

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